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13.11.

Peter Sloterdijk im Ö1-Gespräch
über "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit"

13.11. Peter Sloterdijk im Ö1-Gespräch
über "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit"

Die Sehnsucht  nach Sicherheit ist in den zurückliegenden zehn Jahren ebenso stark gewachsen wie der Wunsch die Frage “Was wird die Zukunft bringen?” verlässlich beantwortet zu bekommen. Das ist wohl mit ein Grund dafür, dass Zukunfts- und Trendforscher so gefragt sind, wie niemals zuvor. Trendforscher glauben zu wissen, was die Zukunft bringt. Sie entwerfen Szenarien und präsentieren sie in mehrstufigen Varianten, gereiht nach Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens.

Der Kulturwissenschaftler und Philosoph Peter Sloterdijk hingegen extrapoliert nicht, er zieht für seinen Entwurf von der Zukunft die Geschichte zu Rate. Er sammelt sie alle, ob Feldherren, Anarchisten, Psychopathen und Psychoanalytiker, ob Faschisten, Übermenschen, Schriftsteller, Propheten und Terroristen und nennt sie beim Namen: Goethe, Balzac, Napoleon, Hitler, Himmler, Lenin, Stalin, Sartre, Schumpeter, und, um ihn nicht zu vergessen, Jesus. Das sind seine „schrecklichen Kinder der Neuzeit“.  Was die Genannten nach Meinung Sloterdijks gemein haben: die Selbstermächtigung. Er deutet die Neuzeit als die Zeit starker Individuen, die sich angemaßt haben, aus dem ewigen Kreislauf von Sitte und Tradition, Abstammung und Vererbung auszubrechen. Sloterdijk: “Was besteht und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite. Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf. Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene ins Unrecht zu setzen.”

Der Mensch wird zur Eigenkreation, zur Fleisch gewordenen Hyper-Individualität, dem Wurzeln, Traditionen, Herkunft nichts bedeuten. Es gilt Jean Paul Sartres Diktum in der extremen Auslegung: “Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat. Sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.” Dass die „schrecklichen Kinder der Neuzeit“ mühsam erkämpfte Errungenschaften, wie etwa den Leitwert „Freiheit“, aufgeben, steigert den Schrecken zusätzlich. Der Leitwert ist wertlos geworden. “Was man heute das ‘freie Individuum’ nennt”, formuliert Sloterdijk, “ist der Endverbraucher von Subversionen, an deren Anfänge sich niemand erinnert. Ob der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist nicht wichtig, solange er ins Bodenlose fällt.”

Die vorliegende Analyse mag uns bewusst machen, wie folgenschwer der Bruch mit den Vätern ist, der mehr Energien frei setzt, als die Überlieferungen binden können. Deshalb nämlich erfinden „die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ reihenweise neue Mythen. Sie brauchen neue Rechtfertigungen, die sie anstelle der alten setzen. Heute versprechen Ökonomen Wachstum und Politiker Wohlstand, während die Einzelnen nach privatem Glück streben und auf ihr ganz persönliches Geschick vertrauen. Sind wir auf dem Weg zu schrecklichen Kindern der Neuzeit zu werden?

Michael Kerbler und Peter Sloterdijk, Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor “IM GESPRÄCH”. Am 13.November 2014 um 21.00 Uhr und am 14.November 2014 um 16.00 Uhr im Radiokulturprogramm Ö1.