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26.06.

Wir müssen eine Zumutung sein
ALPINE PEACE CROSSING

26.06. Wir müssen eine Zumutung sein
ALPINE PEACE CROSSING

8. APC-FRIEDENSDIALOG – KRIMML
27. Juni 2014

WIR MÜSSEN EINE ZUMUTUNG SEIN

Das, was ich vor Ihnen in den kommenden Minuten ausbreiten werde, mögen manche von Ihnen als Zumutung empfinden.
Ich mute Ihnen zu, Krieg zu denken. Ich mute Ihnen zu, sich in Gedanken in den Nahen Osten zu versetzen und sich verzweifelte Menschen vorzustellen, die soeben ihr Hab und Gut in ein Auto gepackt haben, um nach Monaten der Angst und des Schreckens, von Beschuss und Bombardierung, Hunger und Entbehrung zu flüchten. Die sich in den PKW gezwängt haben und soeben weggefahren sind. Aus dem Ort, dem Stadtviertel, der Stadt, wo die Familie seit Generationen gelebt hat. Sie haben alles verloren. Alles. Sie wissen nicht, ob sie jemals zurückkehren werden. Hinter ihnen liegen Schutt und Asche. Hinter ihnen bleiben Ruinen und die Erinnerung an ein einst friedliches Leben. Vor den Flüchtenden liegt eine höchst ungewisse Zukunft.
Nur ein furchtbarer Begriff kommt dem nahe was Menschen zur Zeit Menschen in Syrien und im Irak antun: Gemetzel. Tag für Tag herrscht Krieg. Krieg gebiert Krieg. Gebiert Hass und gebiert Hoffnungslosigkeit. Und die wiederum gebiert Flucht.
Ich mute Ihnen zu, sich vorzustellen, dass Millionen Menschen im Nahen und Mittleren Osten auf der Flucht sind. Jetzt. Weil Krieg und Kriegsfolgen den Menschen den Lebensraum nehmen.
Nein, ich werde das Wort „Bürgerkrieg“ nicht verwenden. Weil es so nicht stimmt. Und ich werde das Wort „Religionskrieg“ nicht verwenden, weil es den wahren Kern der Ursachen nur streift. „Unser Streit geht nicht um Gott. Schlagt euch das aus eurem Kopf. Es geht auch nicht um den Islam. Das ist Unsinn, mich könnt ihr damit nicht überlisten. Mir selbst und euch allen geht es um die eigene Person, jeder von uns will die Macht, die ganze Macht.“ Wer das sagt, richtiger, gesagt hat: Imam Chomeini bei der Absetzung des iranischen Staatspräsidenten Banisadr.
Die Vergangenheit will nicht vergehen. Die schiitische Glaubensrevolution im Iran des Jahres 1979, deren Ziel die Errichtung des schiitischen Gottesstaates war, sie wirkt bis in die Gegenwart. Deshalb fühlt sich die militante dschihadistisch-salafistische ISIS-Miliz legitimiert mordend durch Syrien und den Irak zu ziehen, Menschen zu schlachten, zu kreuzigen, zu enthaupten, weil ISIS ein anderes Ziel vor Augen hat: den fundamentalistischen Gottesstaat, das heilige, das sunnitische Kalifat.
Wer also meint, die Flüchtlingsbewegung, die Europa erreicht, hat in der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 ihre Wurzeln, blendet jenen sektiererischen Krieg aus, der seit der iranischen Revolution 1979 im arabischen Raum zwischen Schiiten und Sunniten schwelt. Dieser einst kalte Krieg, der von den USA mit der Invasion im Irak im Jahr 2003 zum heißen Krieg wurde, hat Syrien erfasst. Und hat das Potential zu einem Flächenbrand. Der Iran auf der einen Seite und Saudi-Arabien auf der anderen Seite – die Führungsmächte des schiitischen und des sunnitischen Blocks – lassen, so scheint es, ihre Differenzen bis zum letzten Syrer austragen. Und hat der neue, der andere Krieg den Irak erreicht. Im Irak sterben seit dem Frühjahr 2003 jeden Monat bei Kämpfen, Terrorakten und Überfällen, die Schiiten und Sunniten gegeneinander verüben eintausend Menschen. Der schiitische Teil des Irak, bis hinauf zum Regierungschef, kooperiert mit dem einstigen Todfeind, dem schiitischen Iran, der – von Moskau unterstützt – Syriens Herrscher Assad gegen die sunnitische Terrorarmee ISIS beisteht.
Die irakischen Sunniten wiederum, die seit der amerikanischen Invasion sich der anfangs kleinen antiamerikanischen, islamistisch-dschihadistischen Bewegung angeschlossen haben, kämpfen nicht nur im Irak, sondern in Syrien, um Assad zu stürzen.
Übrigens: neben den machtpolitischen und geostrategischen Motiven existiert außerdem noch eine nicht heilende Wunde als Grund für die blutigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Die große Kränkung, die im Jahr 1967 der arabischen Welt durch die israelische Armee zugefügt wurde: der verlorene 6-Tage-Krieg Ägyptens gegen Israel. Damals wie heute wird die Nichteinigkeit der arabischen Welt als eine wesentliche Ursache der Niederlage betrachtet. Um die Wiedererstarkung der arabischen Welt zu erreichen, soll die Einigung der arabischen Welt unter sunnitischer Führung gelingen, denn diese stellt mit weit mehr als 80 Prozent die größte islamische Glaubensrichtung dar.
Vor einem sei gewarnt: der ISIS-Anführer hat es bereits ausgesprochen, wer letztlich das Ziel und der wahre Feind ist: Israel. Die Atommacht Israel.
Ich erinnere daran, dass der Irak-Krieg der Bush-Administration die USA eine Billion Dollar gekostet hat. Ich erinnere daran, dass mindestens 5000 Amerikaner im Irak gefallen sind. Aber es muss auch daran erinnert werden, dass es vor dem Krieg gegen Saddam Hussein im Irak keine antiamerikanische radikal-islamischen Guerillakämpfer gegeben hat. Heute gibt es sie zu tausenden. Und es muss leider festgestellt werden: die strategische Position der USA im Nahen Osten hat sich dramatisch verschlechtert.
Über das Ausmaß von Mitschuld und Mitverantwortung der Großmächte an der aktuellen Lage mag noch gestritten werden. Ein schreckliches Resultat dieser Entwicklung erleben wir jedoch jeden Tag aufs Neue:
Die Toten des Krieges – mindestens 160.000 Opfer wurden bisher im Syrienkrieg gezählt -, 6,4 Millionen so genannter Binnenflüchtlinge, die innerhalb des Landes einen sicheren Platz suchen, und 2,7 Millionen Flüchtlinge, die es ins benachbarte Ausland geschafft haben. Etwa in die Türkei, die mittlerweile fast 1,2 Millionen Syrer beherbergt, und in den Libanon.
Stellen Sie sich bitte vor: statt der rund 850 Einwohner in Krimml würden morgen zusätzlich 170 Syrerinnen und Syrer leben. Jeder fünfte Bewohner des Libanon ist Flüchtling aus Syrien. Statt vier Millionen Menschen leben heute fünf Millionen Menschen im kleinen Libanon. Übrigens: von den 2,7 Millionen Flüchtlingen, die UNHCR in den Aufnahmelagern registriert hat, sind 1,1 Millionen Kinder, ein großer Teil nicht älter als sieben Jahre alt.
Und wie hilft Europa, wie hilft die Europäische Union, wie hilft Österreich?
Es gibt eine Wahrheit der Zahl und es gibt eine Wahrheit des Gefühls. Ich lese: „Die EU-Staaten haben 2013 deutlich mehr Flüchtlinge als im Jahr zuvor aufgenommen. Nach Angaben des EU-Statistikamtes „Eurostat“ wurden 2013 135.700 Asylbewerber als schutzberechtigt anerkannt, 2012 waren es noch 116.200. Vor allem die Zahl der aus dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat kommenden und in der EU als Flüchtlinge anerkannten Syrer hat sich gegenüber 2012 verdoppelt.“
Warum tue ich mir so schwer mit diesen Zahlen. Ich tue mir den Zahlen schwer, weil sie nur eine Teilwahrheit sind. Es sind diese Flüchtlinge nicht wegen einer geänderten Flüchtlingspolitik nach Europa gekommen, sondern trotz der Grenzmauern, trotz der Schikanen und trotz der Überwachungsmaßnahmen – etwa der „Frontex“-Offiziere an der bulgarischen Grenze, die dort 1500 Grenzschützer verstärken. Und es wären noch mehr syrische Flüchtlinge nach Europa gekommen, wenn sich die Staaten der europäischen Union an ein verbrieftes Recht hielten: die Genfer Konvention.
Nach der Genfer Konvention ist Kriegsflüchtlingen Schutz vor Vertreibung zu gewähren. Sie haben ein Recht darauf. Es ist daher inakzeptabel, dass Kriegsflüchtlingen in Not eine legale Einreise in die Staaten der EU verweigert wird. Es wäre ein Mindeststandard humanitärer Politik, diese legale Einreise zu gewähren.
Bis jetzt nämlich ist es Flüchtlingen aus Syrien praktisch unmöglich legal nach Europa zu gelangen. Viele Flüchtlinge wählen deshalb den gefährlichen und riskanten Weg über das Meer, um nach Europa, um etwa nach Lampedusa zu gelangen.
Es wäre ein Akt EU-interner Solidarität und der Menschlichkeit, wenn sich EU-Länder, also auch Österreich, nicht hinter der so genannten Dublin-Verordnung verschanzen würden, also hinter jener Regel, die vorschreibt, dass Asylanträge dort zu stellen sind, wo man als Flüchtling eingereist ist. Das führt nämlich 1. dazu, dass in Binnenländern weniger Flüchtlinge Asylanträge stellen und 2. dazu, dass weniger Menschen als dies möglich wäre, mit Familienangehörigen, die bereits in anderen europäischen Staaten leben, zusammengeführt werden können. Eine Integration ist chancenreicher, wenn Familien zusammengeführt werden.
In Schweden allerdings werden, gemessen an der Einwohnerzahl, weit mehr Flüchtlinge aufgenommen, als in anderen EU-Staaten. Schweden verzeichnete 2013 mit 26.400 schutzberechtigten Personen die höchste Zahl, gefolgt von Deutschland (26.100) und Frankreich (16.200). Obendrein: für Schweden gilt, wer aus Syrien kommt, wird ohne wenn und aber aufgenommen.
Übrigens: würde Österreich dem schwedischen Beispiel folgen, dann hätten wir im Vorjahr 22.500 Flüchtlingen Asylstatus gewährt. Tatsächlich gab es in Österreich 6.345 positiv entschiedene Asylanträge.
Solange die EU hier nicht untereinander solidarisch agiert, wird es keine Solidarität nach außen geben. So blieb leider auch der Vorschlag von Bundeskanzler Faymann beim EU-Gipfel im Oktober des vergangenen Jahres ungehört: Werner Faymann hatte damals eine Quotenregelungen befürwortet. Flüchtlinge sollten nach festen Quoten, etwa gemessen an Einwohnerzahl oder Wirtschaftskraft, verteilt werden – und nicht nach dem Ort der Einreise. Er konnte sich nicht annähernd durchsetzen.
„Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, es ist das Ende eines Prozesses.“ Diese Worte stammen vom KZ-Überlebenden und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel.
Und ich stimme ihm zu. Wir dürfen nicht gleichgültig werden. Weder gegenüber dem, was in der Welt geschieht, und schon gar nicht, was Menschen widerfährt. Wir dürfen nicht gleichgültig werden, sondern wir sind aufgerufen zu helfen. Und wir müssen uns zumuten für jene die Stimme zu erheben, die sie nicht erheben können oder absichtsvoll überhört werden. Auch wenn das für manche Menschen, für Institutionen oder für Regierungen eine Zumutung ist. Lassen Sie uns also den Mut fassen und eine Zumutung sein, wenn Menschen in Not sind.